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Nachgedanken zu Lost Highway
Warten auf Godot der Leidenschaft und Nähe - Eine Versuchsanordnung
der Vergeblichkeit


Warum Lost Highway als Vorlage für ein Musiktheater? Heute, nachdem es seit mehreren Monaten fertig ist, frage ich mich das häufiger als damals, als ich mich für diesen Stoff entschieden habe.
Zunächst faszinierte mich, abgesehen davon, daß „Lost Highway“ mich ganz unmittelbar berührte, Lynchs und Giffords radikale Abrechnung mit der Erzählung als einer fortschreitenden Handlung. Dieses Nicht-entkommen-Können aus einer Situation, diese unbarmherzigen (Zeit-)Schleifen, die einen verrückt machen können, wenn man einmal auf ihnen „drauf“ ist, waren eine grundsätzliche kompositorische Herausforderung. Es war die Demontage des alles überblickenden und vereinheitlichenden voyeuristischen Blickes. Dieser andere Blick, der keine Verweisfunktion hat, sondern reines ästhetisches Ausdrucksmittel ist, regte mich an darüber nachzudenken, was dies musikalisch bedeuten könnte. Da es nämlich ein Blick ist für etwas, das nicht aus-gesprochen werden kann. Dieser Gedanke ist mir für die Musik, im Gegensatz zum Leben, sehr nahe. Auch die unterschiedlichen Register der „Sprach-Klangfarben“ bei Lynch, vom Geflüsterten bis zum Losprusten, schienen mir sofort geeignet für ein Musiktheater, wie ich es mir vorstelle: kein Anfang, keine Mitte, kein Ende; unzählige (architektonische und seelische) Innen- und Außenräume; was ist real und was ist phantomhaft; Alltägliches neben Mystischem; alle menschlichen Äußerungen zwischen Geheul und Geschrei, zwischen Lachen und Verzweiflung existieren nebeneinander. All das, sowie das „nihil firmum“ und die existentielle, unumgehbare Fragen nach der Fragwürdigkeit, nach dem Grund der menschlichen Existenz waren ausschlaggebend, um mich an diese verstörenden Vorlage zu wagen.
Auch die bei Lynch sich unmittelbar und sehr schnell ändernden visuellen und auditiven Perspektiven sowie das „Thema“ der Verwandlung (diese war schon in „Bählamms Fest“ ein Symbol für einen Versuch des Ausbruchs aus den eigenen und fremdbestimmten Normen und der Suche nach etwas Neuem) als ersehnte, erhoffte Veränderung im Leben, waren und sind mir sehr nahe, sodaß es mir zunächst gar nicht in den Sinn kam, mich zu fragen, daß ich mich hier auditiv mit einem filmischen Meisterwerk zu messen habe. Eine masochistische Lust am Untergang, in dem der alternative Lebensentwurf zur Vergeblichkeit, erst recht zum Horrortrip wird, als musikalisches Schauspiel? Lost Highway: das Zersplittern, Zerbrechen und Versinken; die vielfältigen Verneinungen, deren Kälte das ästhetische Spannungsfeld bestimmt; die Dimensionen des Phantasmas als Hoffnung; die Macht der Verkleidung, die erst recht zu Mißverständnissen führt. Ging ich deswegen nach Triest, um in Ruhe an dieser Aussichtslosigkeit von Anfang bis Ende, dieser „nuit sans fin“ arbeiten zu können, um wie Umberto Saba, die Unordnung der eigenen Existenz ins Werk einzubringen?

Um auf der Bühne, wie schon Bresson warnte, nicht in Repräsentation zu fallen, war für mich von vornherein klar, daß ich sowohl Musik als auch Video (diese beiden Zeit-Kunstsparten) von vornherein gemeinsam zu konzipieren habe, damit ich dem berühmten Film durch ein neues Ton/Bildverhältnis etwas entgegen zu setzen habe. Auch damit kein konventionelles Bühnenbild die Bewegungen der agierenden Personen in einem sich konstant verändernden Klang/Bildraum hemmt.

Da ich bei der Umsetzung sofort an die von mir äußerst geschätzte Valie Export dachte, kam ich auf die Idee der „suture“, der „Naht“, welche den Unterschied zwischen dem Bild des Bühnengeschehens und der Absenz des Bildes (also der Leere) auf der Leinwand – beziehungsweise umgekehrt – , also der Differenz zweier Wahrnehmungsarten, verdeutlichen soll. Dasselbe gilt für live-gespielte Musik und aufgenommene, um eine gewisse Art der Kontinuität in der Heterogenität zu erzeugen. Aber das System ist kein starres, sondern die „Naht“ kann auch auseinander fallen. Es ist nur eine Methode, mit Hilfe der „Naht“, die Bedrohlichkeit, die scheinbar abwesende Ursache der Angst, das Phantasma, quasi zu überbrücken.

Es mag auch ein „Trick“ sein, um die unterschiedlichen Ebenen (Bühnenraum und Personen „gegen“ Video-Projektion, narrative Fiktion “gegen“ nicht narrative Fiktion, live-gespieltes „gegen“ aufgenommenes, Objektives „gegen“ Subjektives), also die Lücke zwischen den Elementen, zu schließen, zu überspielen. Die „Naht“ dient als Platzhalter für eine scheinbar abwesende Ursache, die Unheimlichkeit erzeugt.

Die Methode, die mich interessiert, ist die, Bilder und Klänge/Musik durch einen Diskurs der Wahrnehmung zu dekonstruieren, um zu zeigen, daß es Bilder und Klänge sind, die nach einer bestimmten Logik funktionieren und auch manipulierbar sind. Wir können dann vielleicht erkennen, daß die Phantasmen (einer der wichtigsten „Inhalte“ in diesem Musiktheater) eine Geschichte bzw. einen Kern haben. Das Problem von Bildern und Klängen ist, daß sie etwas Metaphorisches an sich haben: sie verdichten einen ganzen Vorstellungskomplex und werden zu einem Ton/Bild-Geflecht für ein ganzes Bedrohungsszenarium.

Da es in „Lost Highway“ von Anfang bis Ende keinen Ausweg gibt, soll das Video in Korrelation mit dem Ton einen konstant flackernden Klang-Bild-Raum bilden.

Obwohl die Komponistin nicht mehr viele Anweisungen gibt, da mit einer Musiktheaterpartitur ohnehin gemacht wird was gewollt wird - das hat die Komponistin gelernt - muß eines unbedingt erfüllt werden, nämlich eben der Einsatz von Video. Und zwar aus folgendem Grund:
Die „ultimative Bedrohung“ geht von einem Point-of-View-Shot aus (im Fall von „Lost Highway“ anscheinend vom Mystery Man mit seinem eingebauten Kameraauge erzeugt, der alles sieht und daher auch vielleicht alle und alles, auch das Verlangen und Begehren, aufzeichnet und manipuliert), der nicht eindeutig einem der Haupt-Protagonisten auf der Bühne zugeschrieben werden kann und daher das konstant präsente Gespenst eines frei herumschwebenden Blicks heraufbeschwört. Auch soll das Video den Blick einer unmöglichen Subjektivität, die nicht innerhalb eines erzählenden Raumes lokalisiert werden kann, übernehmen.

Die Videobänder laufen das gesamte Stück lang durch, auch wenn Blackout oder Abblende/Aufblende in der Partitur angegeben sind. Es bedeutet, daß an diesen Stellen das Video nicht ausgeschaltet wird. Es bleibt als Textur (keine realen Motive, die auf etwas verweisen, sondern nur Farben bzw. Lichtflackern als eine Art von Stillstand der Zeit und ein Raum ohne Ausdehnung) stehen.
Da „Lost Highway“ für mich als eine Versuchsanordnung eines existentiellen menschlichen Problems anzusehen ist, muß der Bühnenraum für mich aseptisch sein und leer. Daher ist der gewünschte Einsatz von Video nicht als Dekor gedacht, sondern als integrativer Bestandteil des Bühnenraumes. Beziehungsweise kreieren die Videos erst den Bühnenraum! Das heißt: die Dreidimensionalität des Raumes wird durch Videoleinwände, Gazen und das Videobild selbst gestaltet. Die Videos sind für die schnellen Ortswechsel (Außen- und Innenräume) sowie für die Wunsch-, Sehnsuchts- und Angsträume im Kopf von Fred und Pete „zuständig“. Die Sänger und Schauspieler haben sich durch dieses schreckliche Raumgefühl, nämlich dem Nirgendwo-zu-sein, dem Ortlosen, dem Nicht-Realen, Nicht-Greifbaren, zu bewegen. Die Videos könnten den U-topos, einerseits das Verlorene aber andererseits auch das erträumte, unereichbare Ideal thematisieren.

Die von mir eingeführten Abblenden/Aufblenden sollen menschenleere Bilder erzeugen, die den Handlungsablauf für kurze Zeit unterbrechen. Während der visuellen Abblenden kommt es zur akustischen Expansion des Raumes (schnelle Blende auf alle Lautsprecher im Raum), während der visuellen Aufblenden hingegen zur Kontraktion des akustischen Raumes (zurück zu den Bühnenlautsprechern).

Da der Traum oft das Wesen der Dinge offenbart, war es für mich als Komponistin wichtig, Hörbilder zu erzeugen, damit ich nicht vom Bild abhängig werde. Unterschiedliche Hörspielartige Sequenzen mögen selbständige Bilder quasi im Kopf des Zuhörers entstehen lassen.

Eine einzige Szene wurde von Elfriede Jelinek und mir genau deswegen verändert, da sie eine besondere filmische Qualität aufweist, der man auf der Bühne auf keinen Fall nachkommen kann. Es ist die Sequenz der Autoverfolgungsjagd am Mullholland Drive und dem daraus resultierenden Gewaltausbruch von Mr.Eddy. Mr.Eddy/Dick Laurent und der Mystery Man repräsentieren auf verschiedene Weise die Maskeraden des Bösen. Mr.Eddy, dieser Pornoproduzent in der Maske des sozial-populären Saubermannes, wird in unserem Fall nicht wirklich physisch brutal, sondern verletzt und zerstört durch Sprache an sich. Das Aussprechen wird zum Handeln, es kommt zu einem Diskurs des Grauens durch die Vergegenwärtigung einer Banalität, nämlich dem Rauchen in einer Garage. Der sprachliche Horror entsteht durch die aus dem spezifischen Kontext enthobenen Wiederholungen und der Atomisierung der Sprache analog zu : „I can kill with words“. Die Betonung liegt in dieser längsten Szene von „Lost Highway“ auf der populistischen Manipulierbarkeit und Gewaltausübung durch Sprache, daher wird Mr.Eddy/Dick Laurent am Ende des Stückes auch die Kehle durchgeschnitten, es wird ihm sozusagen die Macht der Sprache genommen.

Im sogenannten illusionslosen, realen ersten Teil, in dem nur geflüstert bzw. gesprochen wird, erkennt man, daß ein erstarrter Alltag in die Beziehung eines gutsituierten Paares eingetreten ist. Fred, der Renee sehr liebt, wird über der Angst, diesen geliebten Partner wegen dessen unausgesprochener Vergangenheit nicht wirklich zu „besitzen“, mehr und mehr verunsichert. Sie ist, wie später Alice auch, ein Fetisch, der nicht reagiert. Sowohl Renee als auch Alice sind Meisterinnen der ewigen Ausreden, der scheinbaren Beantwortungen, die Interpretationsbedarf hervorrufen. Sie wirken wie ein Vertuschen von Lügen. So entstehen frei im Raum herumschwebende Spekulationen. Live-Elektronik im gesamten Aufführungsraum bestimmt diesen ersten düsteren, rätselhaften Teil. Das Publikum ist sozusagen integriert in das Nicht-Funtionieren der Beziehung dieses Paares. Durch das nicht-umgehen-können mit der ständig präsenten Enttäuschung und der daraus resultierenden Unsicherheit entsteht Impotenz und Aggression, da das Wirkliche konstant in Schwebe bleibt. Am Höchststand der Desexualisierung zwischen Fred und Renee kommt es zur Resexualisierung durch Mord. Fred verwandelt seine Ausschließung aus dem Wissen von Renee und die Verzweiflung über die Ermordung seiner geliebten Frau in traurige Bilder, in Phantasmen. Er setzt sich die Maske des jungen, virilen Mannes auf, in der Hoffnung von neuem beginnen zu können, um mit Kraft, Leidenschaft, Liebe und Unbekümmertheit die Kälte der Frau zum Einsturz zu bringen. Pete erliegt Alices scheinbarer Unverstelltheit und Hingabe, da es das ist, was er sich erträumte. Über Alices Täuschungsmanöver und das Warten auf Nähe wird Pete ungeduldiger und ungeduldiger und gleichzeitig gewinnt sie immer mehr Kontrolle über ihn. Er, der leidenschaftlich liebt, wird von Alice für die Lösung ihres Lebens funktionalisiert und wird durch diesen Umstand sprachloser und sprachloser, da er merkt, daß sie letztlich nichts für ihn fühlt und nur mit ihm spielt. Der Lösungsversuch durch die Flucht ins Phantasma, wird erst recht zum Horrortrip, da es kein Entkommen gibt vor der kalten Frau und ihrem Schweigen, welches Macht bedeutet. Absolute Vergeblichkeit!In dem Moment, in dem die Entfremdung von Alice für Pete endlich klar wird, erhält die Sopranistin (ein hoher Sopran ohne bzw. mit sehr wenig Vibrato) eine metallische Veränderung ihrer Stimme durch Live-Elektronik. Alice entzieht sich ihm mit den Worten „you will never have me“ und verschwindet wortwörtlich von der Bildfläche durch einen Schlitz in der Leinwand. Die seelische Katastrophe hat zum zweiten Mal ihren Lauf genommen. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit sowie der daraus resultierende Verlust bzw. die Zerstörung des Ichs führen wieder zu Mord in der Verlorenheit dem Unbegreiflichen gegenüber. Diesmal in der Weite der Wüste, dem Ort des Todes bei Lynch.

Das Unausgesprochene wird zum Alptraum und das Warten und falsche Hoffen setzt sich in jedem Hautpartikel fest, wenn offene Fragen totgeschwiegen werden. Wenn man nämlich weiß, womit man konkret rechnen muß, kann man gefasster sein, das wurde aber sowohl Fred als auch Pete nicht ermöglicht. Es kann aber nur Gleichheit in einer Beziehung geben, wenn man auch versucht, das Gegenüber ernst zu nehmen und ein zu beziehen. Daher wird das scheinbar so neutrale Schweigen zu einer unerträglichen Demonstration von Macht über einen anderen Menschen. Davon erzählt „Lost Highway“.

Das vibrierende, unstabile Feld zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Lebendigem und Totem und zwischen Form und Formauflösung möge uns in einen beängstigenden und gleichzeitig faszinierenden Strudel zwischen Traum und Wirklichkeit versetzen. Am Ende bleibt alles als eine Chronik von Gewalt, Liebe, Verlust und Schmerz zurück. Vielleicht vermittelt aber gerade dieser Endpunkt die Ahnung von einem anderen Lebensentwurf...

Olga Neuwirth, Juli 2003



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