olga neuwirth
contact 
Im Spiegelkabinett der Klänge

Laudatio auf Olga Neuwirth, Plön, 7.8.1999
Von Max Nyffeler

Zu den sinnvollen Arten, Geld auszugeben, gehört in unserer auf sinnlose Verschwendung der Ressourcen ausgerichteten Gesellschaft noch immer die Förderung des künstlerischen Nachwuchses. Eine Preisverleihung wie die heutige ist denn auch eine rundum erfreuliche Angelegenheit. Da ist jemand, der als Kunstliebhaber etwas für die Allgemeinheit tun möchte und einen Preis für den Nachwuchs gestiftet hat. Und auf der andern Seite ist ein junges Talent, das seine herausragende Begabung allseits bewiesen hat, aber, wie das so ist, von den Früchten seiner Arbeit noch lange nicht leben kann und deshalb auf Zuwendungen dieser Art dringend angewiesen ist, um sich ohne Not weiterentwickeln zu können. Und so sieht man bei der Preisverleihung lauter zufriedene Gesichter. Der grossmütige Gönner ist glücklich, dass der Preis in die richtigen Hände geraten ist. Das junge Talent freut sich über den Zustupf und kann die wohlklingende Auszeichnung in seine Biographie einfügen. Das Publikum ist Zeuge einer sympathischen Feier. Und zuguterletzt denkt sich auch der Verleger: "Eigentlich würde es sich lohnen, für den jungen Künstler mehr zu tun", und lässt ihn auf der Liste der Verlagsfavoriten einen Platz vorrücken. Jeder ist glücklich über das gelungene Beispiel von Kulturförderung, dessen er ansichtig geworden ist.

Doch trügt die glänzende Oberfläche nicht ein wenig? Sieht nicht die Realität des Kulturbetriebs prosaischer, weniger feierlich aus? Den Wert der Auszeichnung, das persönliche Engagement der Stifter und aller daran Beteiligten will ich keineswegs schmälern. Im Gegenteil, ich möchte die Gelegenheit nutzen zu einem Appell: Machen wir mehr dergleichen, rufen wir weitere solcher Initiativen ins Leben, auf dass der künstlerische Nachwuchs noch bessere Chancen erhalte. Denn allein er ist es ja, der morgen und übermorgen Neues schafft und damit die kulturelle Zukunft einer Gesellschaft garantiert. Nachwuchsförderung ist immer auch eine Investition in die Zukunft dieser Gesellschaft.

Aber, um auf mein Fragezeichen zurückzukommen: Der künstlerische Alltag ist bekanntlich wesentlich härter, als er uns in so einer Feierstunde erscheint. Vor allem aus der Sicht des Nachwuchses. Sie sehen, ich bleibe immer noch anonym-allgemein und schliesse die Komponistin Olga Neuwirth stillschweigend und in der Hoffnung auf ihr Einverständnis mit ein vor allem aus der Sicht des Nachwuchses hat dieser Alltag mehr mit einem andauernden Kampf als mit Sonntagsgefühlen zu tun. Nun mag man einwenden: "Das war immer so, und der Erfolg ist noch niemandem in den Schoss gefallen." Im grossen Ganzen mag das stimmen. Doch scheinen die Bedingungen, unter denen Kunst ausgedacht und realisiert wird, noch nie so kompliziert und für den Einzelnen so anstrengend gewesen zu sein wie heute in einer Zeit, in der die gesamte menschlichen Kommunikation sich offensichtlich grundsätzlich wandelt. Die Schwierigkeiten gelten sowohl für die inneren als auch die äußeren Bedingungen der Kunstproduktion. Zur Beschreibung der äußeren Bedingungen lassen Sie mich einen Befund zitieren, der zwar schon etwas älteren Datums ist, deshalb aber den Vorteil hat, dass er nicht in den Verdacht einer wohlfeilen Zeitgeist-Kritik gerät:

"Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg,Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Consumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichen Bedürfnisse; "wer und wieviele consumieren diess?" ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler,Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Werth einer Sache festzusetzen." Das Zitat, das da so hellsichtig den heutigen Triumph des Ökonomismus über alle Lebensbereiche vorhersagt, stammt von Friedrich Nietzsche und ist 118 Jahre alt. Nietzsche konkretisiert seine Feststellung mit einer Prophezeiung, die für uns Nachgeborene alles andere als schmeichelhaft klingt: "Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in's Unbegränzte und Feinste durchdacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Vertrauen in diese Propheten." Dieser Art von Taxation, der nach Nietzsche die "Frage aller Fragen" zugrundeliegt: "Wer und wieviele consumieren diess?" dieser Taxation sind die Künste heute nicht weniger ausgesetzt als irgendein beliebiges Wirtschaftsgut. Ein Künstler hat darauf zu reagieren. Soll er sich unbesehen in den Warenkreislauf hineinbegeben? Soll er sich ihm widersetzen, oder soll er versuchen, ihn einfach zu ignorieren? Die Antwort, zu der er sich letztlich entschliesst, ist nicht ohne Folgen für seine Arbeitsweise und das Produkt seiner Arbeit, das Kunstwerk. Sie kann seinen Erfolg in der Gesellschaft befördern oder hemmen, sein Werk zu einem Akt des Widerstands gegen oder der Anpassung an die ihm fremden ökonomischen Zwänge werden lassen. Alles hängt von seiner persönlichen Entscheidung ab.

Und hier sind wir bei den inneren Bedingungen des Kunst- und Musikmachens angelangt. Künstlerische Arbeit war immer eine einsame Arbeit. Doch ist diese Einsamkeit nie grösser gewesen als heute, da alle tradierten Normen von Schön und Häßlich einem grenzenlosen Relativismus gewichen sind. Eine Geborgenheit in einem überlieferten künstlerischen Wertekanon ist nicht mehr möglich. Die Auftraggeber Institutionen wie die Kirche, der Fürstenhof oder eine bürgerlicher Konzertgesellschaft, die früher diesen Wertekanon noch unangefochten repräsentierten und ihn auch von den Auftragswerken einforderten solche Auftraggeber sind heute ebenso verschwunden wie die geistigen Normen, auf die sie sich stützten. In diesem Niemandsland hat ein Komponist seinen Weg zu suchen, irgendwo zwischen den mächtigen Trümmern der Tradition und den Abgründen der neuen Beliebigkeit, einmal bauend auf die vertraute Bodenhaftung des realen Instrumental- und Stimmklangs, ein andermal abhebend in die virtuellen Räume von Live-Elektronik und Computersound. Jedes neue Werk ist unter diesen Umständen ein Abbild der Suche nach dem Möglichen, vielleicht auch Unmöglichen. Es besitzt etwas Vorläufiges, aber in seinem Abtasten der Möglichkeiten enthält es zugleich ein Zukunftspotential, das nicht zu unterschätzen ist.

Warum diese langen Vorbemerkungen allgemeiner Art? Ich meine, dass wir schon längst mitten im Thema sind. Denn alle diese Fragen und Problemstellungen, Möglichkeiten und Perspektiven haben das Denken unserer Preisträgerin von Grund auf geprägt. Olga Neuwirth ist ein hellwacher Kopf. Wer schon eines ihrer Interviews oder einen ihrer Aufsätze gelesen hat, der weiß: Sie reflektiert die Bedingungen ihrer künstlerischen Tätigkeit, überhaupt die Paradoxien einer heutigen Künstlerexistenz so gründlich wie kaum jemand aus ihrer Generation. Das hat sich natürlich auch in ihrem Werk niedergeschlagen. Es kann über weite Strecken als Spiegel ihrer komplexen Wirklichkeitserfahrung verstanden werden, als Vexierbild einer Welt, die mehr und mehr virtuelle Züge annimmt und ungreifbar geworden ist. Wo in dieser labyrinthischen Wirklichkeit ist da noch der Ort, an dem sich das künstlerische Subjekt seiner selbst vergewissern kann, wo menschliche Empfindungen noch ungebrochen möglich sind? Olga Neuwirths ganzes bisheriges Schaffen scheint sich der Suche nach diesem Ort verschrieben zu haben. In ihrer Musik findet man auf kleinstem Raum Gratwanderungen am Rande des Absurden, das Anrennen gegen Wände und das In-die-Irre-Laufen, das Ineinander von rauher Widerborstigkeit und schillernder Klangverführung, eine Mischung von Komik und Trauer, von Ironie, Aggressivität und Zärtlichkeit. Und immer wieder jenes Flackern zwischen Schein und Sein, das dem Hörer das Gefühl vermittelt, in einem Spiegelkabinett der Klänge verloren zu sein.

Das alles bewerkstelligt sie mit den heute verfügbaren technischen Mitteln. Das traditionelle Instrumentarium wird oft ergänzt durch Live-Elektronik, Computer, Video. Ihre kompositorischen Verfahren stammen nicht zuletzt aus der Filmtechnik: Schnitt, Collage, Montage von Heterogenem, Überblendungen. Aber auch das wuchernde Fortspinnen und die Prozessgestaltung im Mikrobereich des Klangs gehören dazu. Manche dieser Verfahren gehen historisch auf den Surrealismus zurück und auf die Traditionen der experimentellen Literatur, angefangen von den russischen Avantgardisten der zwanziger Jahre über Wortakrobaten ihrer österreichischen Heimat wie H. C. Artmann bis hin zum labyrithisch-konstruktiven Georges Perec aus dem Umfeld der französischen Gruppe Oulipo, "Ouvroir de littérature potentielle". Wesentliche Anregungen fand Olga Neuwirth bei Elfriede Jelinek und deren Verfahren, die Umgangssprache durch ironische Brechungen in eine neue Künstlichkeit zu transformieren. Diese Autorin hat denn auch schon mehrfach Texte für sie geschrieben, zuletzt das Libretto zum Musiktheaterstück "Bählamms Fest", das vor anderthalb Monaten bei den Wiener Festwochen mit grossem Erfolg uraufgeführt wurde und für Olga Neuwirth den endgültigen Durchbruch auf dem internationalen Parkett markiert. Am letzten Mittwoch hat Olga Neuwirth übrigens gerade ihr dreißigstes Lebensjahr vollendet. Ihr musikalischer Werdegang begann im Kindesalter, als sie sich unter dem Flügel ihres Vaters, eines Jazzpianisten, von den Klavierklängen einhüllen liess. Das Trompetenspiel musste sie wegen eines Unfalls aufgeben, doch das brachte sie auf die Idee, Komponistin zu werden. Kompositionsunterricht erst in San Francisco, dann in Wien legte die Basis, doch entscheidende Anregungen erhielt sie in Stuttgart von Adriana Hölsky und von Begegnungen mit Luigi Nono und Helmut Lachenmann. Im Pariser Ircam lernte sie die Möglichkeiten der Live-Elektronik kennen ein Mittel, das sie seither immer wieder einsetzt, um neuartige Hybridklänge zu erzeugen und weitgespannte künstliche Räume zu schaffen.

Um die latenten, vibrierenden Spannungszustände dieser Musik zu charakterisieren, wäre ein Begriff wie "Widerspruch" fehl am Platz. Gar nicht zu reden von Widersprüchen fundamentaler Art, die wie weiland die Dominante in Beethovens Sonatensatz nach unmissverständlicher Auflösung verlangen. Die Zeiten solcher eindeutigen Setzungen sind vorbei, nicht nur für Olga Neuwirth. Die subtile Kraft, die die Binnenspannung ihrer Musik aufrechterhält, liesse sich wohl eher mit dem Begriff der Ambivalenz erfassen: Ambivalenz der Gedanken und Affekte, Ambivalenz der Wahrnehmung. Die Grundfrage, auf die die Komponistin immer wieder zurückkommt, lautet: "Was ist real, was ist künstlich?" Eine Antwort findet sie selbstverständlich nicht. Doch sie spielt mit diesen Ambiguitäten voller Lust und ohne die Illusion, sie dauerhaft auflösen könnten. Mehr noch: sie will sie gar nicht auflösen. In der changierenden Identität liegt für sie gerade der Sinn und für den Hörer der Reiz ihrer musikalischen Gestalten.

Mit der Kunst gegen die Absurditäten und Inhumanitäten des Alltags anlaufen: Dies ist die heimliche Triebkraft von Olga Neuwirths Komponieren. Oder, wie sie 1994 in einem Text über ihr Ensemblestück "Lonicera caprifolium" formulierte: "Und so geht es immer weiter und weiter... Wie im Leben, in dem man oft der Wärme der Gemeinschaft bedürftig gewesen wäre, diese aber verloren findet. So tritt man die Flucht nach vorne an: in die Gesellschaft der toten Dinge, in den Zynismus der gewollten Entfremdung. Die Kälte und die Maske werden zum Lebenselixier. Erst durch die geschaffene Distanz erscheint eine gewisse Art einer eigenen Authentizität der Empfindungen. Die Subjektivität hinter der Glaswand."

Darin zeigt sich etwas vom Lebensgefühl der Künstlergeneration, die mit der Expansion der Medienwelt gross geworden und in das schwierig zu bewältigende "Everything goes" der glitzernd-kalten neunziger Jahre hineingewachsen ist. Es ist die dritte Nachkriegsgeneration. Die erste, in den fünfziger Jahren, baute sich nach dem Nazi-Desaster mit seinem verlogenen weltanschaulichen Pathos eine gereinigte Welt der Konstruktion; in ihr ging eine wissenschaftlich geschulte Rationalität einher mit einem hochfliegenden Fortschrittsoptimismus. Gegen diese Generation der "Darmstädter Seriellen" stürmten dann in den siebziger Jahren die jungen Ausdrucksmusiker an und stellten deren Strukturdenken ihre neue, bedingungslose Subjektivität entgegen. Von beidem ist eine heutige Komponistin wie Olga Neuwirth meilenweit entfernt. Für das rationalistische Fortschrittsdenken der Serialisten fehlt ihr der Glaube, und die männlich auftrumpfende Subjektivität der "Jungen Wilden" der siebziger Jahre ist für sie zu vordergründig. Ihre Subjektivität ist eine hinter der Glaswand.

"Was ist real, was ist künstlich?" Olga Neuwirths Frage ist die Frage nach dem Scheincharakter von Kunst überhaupt und letztlich die Frage nach dem Scheincharakter der Erkenntnis. Sie beschäftigt die Menschen seit Platons Höhlengleichnis, obwohl seither kaum Neues dazu gesagt worden ist. Der Komponistin läßt diese Frage keine Ruhe. Auf immer wieder andere Weise ist sie ihr in ihren Werken nachgegangen. Sei es das klangliche Schillern der Ondes Martenot in ihrem Orchesterwerk "Sans soleil", sei es der verfremdete, androgyne Ausdruck des Countertenors in den Liedern von Liebe und Tod nach Klaus Nomi, sei es, wie in ihrem jüngsten Bühnenwerk, der proteushafte Wechsel zwischen tierischem und menschlichem Ausdruck: In solchen Momenten lässt sich durch die maskenhafte Physiognomie der Musik hindurch ein tiefer Blick in ihr Inneres tun. Auf ihrem Grund leuchtet dann, mit sirenenhafter Verlockung, so etwas wie das Versprechen einer neuen Schönheit auf. Doch Vorsicht: Auch hier steht eine Glaswand davor, und beim begehrliches Hinfassen könnte etwas zerbrechen. Max Nyffeler, 3.8.1999


up