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Die Macht des Zufalls – oder: Ist die Welt noch bewohnbar?
Ein Interview von Wolfgang Hofer mit Olga Neuwirth (2004)

Hofer: “Un coup de dés jamais n´abolira le hazard” – dieser Satz von Mallarmé, wonach ein Würfelwurf niemals je auslöschen wird den Zufall ... würdest Du dem zustimmen?

Neuwirth: Vollkommen richtig. Es gibt auch den schönen Einstein-Satz “Gott würfelt nicht”. Man versucht, durch den Würfel den Zufall nur zu umgehen. Aber der Zufall ist eben nicht auszuschalten. Gott sei dank. Auch wenn man den Würfel einsetzt, weil man Angst vor dem Zufall hat, rettet einen das nicht.

Hofer: Eine klassische Redewendung lautet: “Die Würfel sind gefallen.”

Neuwirth: Alea jacta est. Man will den Zufall auslöschen, denn der Zufall ist eine Limitation der Freiheit. Indem man selbst nicht mehr handeln kann. Durch diesen Ausspruch fällt der Mensch eine Entscheidung. Wie ein Rettungsversuch, sich gegen das Unvorhersehbare zu schützen. Es geht um die Selbstbestimmung.

Hofer: Noch eine These als Eingangsfragezeichen: Es ist nichts zufällig, was einem so zufällt.

Neuwirth: Ja, das ist dann die Verdichtung des Zufalls. Ich reagiere darauf mit einem Gegen-Satz, von Sigmund Freud über den Tod aus den Jahren 1904/05: “Die Akkumulation des Zufalls setzt dem Zufall ein Ende”. Durch die Verdichtung und Anhäufung des Zufalls wird die (Un)Wahrscheinlichkeit ausgelöscht. Da wird es schwierig, es handelt sich um eine philosophische Frage ...

Hofer: ... macht doch nichts ...

Neuwirth: ...weil: im Leben gibt es wirklich oft Dinge, wo sich etwas wiederholt und man sich sagt: das kann doch einfach nicht wahr sein, das gibt es nicht, das kann sich einfach nicht wiederholen. Diese Verdichtung hat dann plötzlich mit Schicksal zu tun. Und dem kann man nicht entkommen. Das ist äußerst beängstigend. Weil der einfache Zufall ist noch auszuhalten, aber die Häufung des Zufalls läßt das Ich umso mehr zerfallen. Davor hat man Angst. Bei einem einmaligen Zufall hat man noch die Möglichkeit, zu handeln. Bei der Verdichtung kann es zu einer (seelischen) Katastrophe kommen. Außer es ereignet sich so ein Zufall, der immer nur Glück bringt. Dann ist es ja wunderbar.

Hofer: Damit sprichst du schon das ganze Panorama an: des Zufalls zwischen Katastrophe und Glück. Darauf werden wir sicher noch zurückkommen. Zunächst aber noch eine metier-technische Frage. Manchmal hatte ich bei Zufalls-Operationen eines John Cage oder von Morton Feldman den Eindruck, als ob sie insgeheim doch auch ein wenig mit dem Computer würfelten.

Neuwirth: Im Fall von "...ce qui arrive..." geht es nicht um den Zufall als Form, sondern den Zufall als Inhalt. Das ist für dieses Stück besonders wichtig. Ich spiele nicht mit Zufallsmechanismen à la Cage. Ich glaube ohndies: wenn man als Künstler allein schon in irgendeiner Weise etwas bestimmst, irgendeine Regel setzt, ist es nicht mehr der pure Zufall. Was wirklich unglaublich ist, ist daß der Alltag der pure Zufall ist. Wenn ich als Komponist irgend etwas bestimme, habe ich den Zufall bis zu einem gewissen Grad schon ausgeschlossen.

Hofer: Das führt mich direkt zur nächsten Frage: Daß Du das Zufallsprinzip zur Hauptkategorie deiner Arbeit erhebst, erscheint nämlich zunächst frappant. Zeichnet sich deine Arbeitsweise sonst doch dadurch aus, daß alles exakt organisiert, bis ins kleinste Detail durchstrukturiert wird, nach genauestem Plan. Also das wirkt – von außen betrachtet – ein wenig paradox.

Neuwirth: Das Paradoxe ist ja gerade das, was mich besonders interessiert. Dadurch entsteht Reibung. Das Komponieren ist das Gegenteil von Leben (vielleicht bin ich am Ende gerade deshalb Komponistin geworden!) – also ich will es folgendermaßen formulieren: Im Leben kann man beinahe nichts vorherbestimmen. Die Macht des Zufalls ist so groß, daß man sein Leben nicht komplett determinieren kann. Letzten Endes muß man sich daher jeden Tag neu erfinden, weil das Leben täglich etwas neues bringt, eine zufällige Situation, auf die man reagieren muß. Obwohl die Zeit quasi unbeweglich ist. Den Auster-Text “from hand to mouth” habe ich wegen des Spiels verwendet, das er erfindet. Indem man Spiele (hier auch als Synonym für Kunst) erfindet, versucht man, das Leben zu stabilisieren. Und beim Komponieren versuche ich, alles möglichst präzis zu notieren. Was schon wieder absurd ist, weil man nicht wirklich alles präzis notieren kann, denn es bleibt sowieso immer eine Art “fuzzy logic”, eine Grauzone. Es handelt sich abermals um diesen menschlichen Versuch, gegen den Zufall zu arbeiten, indem man alles so gut wie möglich determiniert.

Hofer: Vielleicht hat das auch mit dem von Pierre Boulez geprägten Ausdruck vom “gelenkten Zufall” zu tun, irgendwo her weht für mich auch die Idee von Luigi Nonos “risonanze erranti” herein.

Neuwirth: Richtig: “risonanze erranti”! Für mich ist aber in Bezug auf “... ce qui arrive ...” folgendes wichtig: es gibt zwei zusätzliche Medien, die Sprache und das Video. Wobei der Film genauso eine Zeitkunst ist wie die Musik. Insofern mußte es für uns eine Fixierung der Zeit geben. Für den Ansatz des Werks war nicht der Zufall als Form bedeutsam, vielmehr sind wir von den Texten Paul Austers ausgegangen, in denen es um den Zufall geht. Die Sprache liefert uns den Diskurs über den Zufall. Also Zufall als semantische Kategorie. Der Zufall entsteht dann formal noch durch etwas anderes: nämlich, daß nicht genau vorher planbar ist, wie die drei Medien Musik, Sprache und Film aufeinander prallen.

Hofer: Da ist also ein nicht genau kalkulierbarer Rest im Zufallskonzept.

Neuwirth: Natürlich sind es am Ende ungefähr 55 bis 56 Minuten. Aber fixiert waren nur drei Momente, das sind die drei Songs. Die Zeit dazwischen, wie die Sängerin reagiert, das war ihr überlassen. Ich wiederum habe die Auster-Texte fragmentiert und so zusammengesetzt, daß “from hand to mouth”-Splitter auf “Red Notebook”-Fragmente stoßen, auf neue Weise interagieren, so entsteht eine Intertextualität allein schon zwischen den Textebenen. Wie das dann auf das Bild und die Musik wirkt, ist noch einmal etwas anderes. Der Zufall bestimmt jeden Moment, wie man das Gesamte wahrnimmt. Es geht um die Unsicherheit, um den Zufall der Wahrnehmung.

Hofer: Es handelt sich also um eine Art Potenzierung von Zufällen höheren Grades.

Neuwirth: Wie das ja auch bei Paul Auster immer ist – ein Zufall kann alles mögliche auslösen: zwischen Lachen und Lamento, zwischen Labyrinth und einem Wegweiser. Wie z. B. im Khoan im Zen-Buddhismus, wo man plötzlich einen Schlag bekommt von seinem Meister, damit man sein Denken wieder in eine andere Richtung entwickelt.

Hofer: Um über die “Musik des Zufalls” zu Paul Auster zu kommen: Du verwendest ja eigentlich drei unterschiedliche Quellen dieses Autors, die von Dir in neue Korrespondenzen gesetzt werden. Konkret gefragt: hast Du die dreizehn oder fünfzehn Zufallsgeschichten aus dem “Roten Notizbuch” nach dem Zufallsprinzip ausgewählt? Oder hast du das gefiltert und gesteuert durch eine leitmotivische Gesamtidee?

Neuwirth: Ich bin von der ersten Fassung mit den dreizehn Stories ausgegangen und habe mir bewußt zu machen versucht, was grundsätzlich ihr eigentlicher Inhalt ist. Die Auswahl ergab sich durch die Konzentration auf jene Texte, die mehr mit dem Gehalt der Songs und den anderen Textgestalten zu tun hatten. Deshalb ist schließlich auch die Geschichte mit dem Krieg weggefallen, die ich zunächst unbedingt drin haben wollte, weil der Protagonist immer wieder überlebt, unentwegt durch Zufälle überlebt. Das wäre total total herausgefallen aus dem Zusammenhang mit den Songs, dem “am Wasser sein” und Austers Identitätssuche eines Künstlers. Dabei geht es sowohl um die Suche und Sehnsucht nach Liebe, als auch um den alltäglichen Überlebenskampf und die Identitätssuche. So sind schließlich insgesamt fünf Texte aus dem “Red Notebook” geblieben. Die haben übrigens immer auch etwas von einer “detectiv-story”: die Suche nach dem “Verbrechen Leben”.

Hofer: Schöne Aussichten. Das Leben als Verbrechen. Vielleicht ist das per Zufall am Ende auch noch wahr. Nun gut: die Selektion der Texte folgte also nicht dem Zufallsprinzip, sondern inhaltlichen Kriterien und Konstellationen. Jetzt kommt noch die Ebene des Kartenspiels dazu, dieses “Action Baseball”. So weit ich das kenne, muß ich gestehen, daß mir einfach nicht klar ist, wie das zu verstehen sei. Aber spielen vielleicht andere Elemente dabei eine Rolle für Dich? Also optische Eindrücke als Anregung für Verfahrensweisen im Stück, die Karten als Modelle für den Formverläufe?

Neuwirth: Als Künstler hat man es auch mit einer gewissen Ausweglosigkeit zu tun. Manchmal hat sich beispielsweise etwas festgesetzt im Kopf, das man nicht sofort lösen kann. Deshalb geht es bei mir um innere psychologische und äußere Räume. Einerseits um die Weite von Wasser, Wind, Meer und Luft. Andererseits um innere Räume. Der Raum im Kopf. Was gleichzeitig ein Gefängnis oder die Freiheit bedeuten kann. Das kann ja auch groß und weit sein. In diesem Sinn, mit dem Spiel, setzt man etwas fest, weil man versucht, eine Überlebensstrategie zu entwickeln, wie Paul Auster, der alles mögliche unternimmt, um irgendwie Geld zu verdienen und sich dadurch die Unabhängigkeit und die unmanipulierte Autonomie des künstlerischen Schaffens zu erhalten. Es kommt bei ihm zu einem fast surreal anmutenden Versuch, wie ein Kind, das alle Hoffnung setzt auf die Rettung und das Schaffen von Rreiräumen durch ein Spiel, das es erfindet. An dieser Hoffnung scheitert man aber meist an der Kälte, dem Unverständnis und der Trägheit der umgebenden Menschen. Das Spiel ist so eine Art erratischer Block im Hirn, eine idiosynkratische Idee, die eigentlich gar nicht vermittelbar ist. Steht doch sein Spiel in krassem Gegensatz zu den herkömmlichen, banal piependen computergesteuerten Spielen der Jetztzeit. Aber ich glaube fest, daß sein Spiel durchaus anregender ist für die Phantasie. Letzten Endes ist es so absurd und kompliziert, daß ich mich dazu entschlossen habe, diese Textpassagen für sich allein laufen zu lassen. Denn man muß sich pur hineinsteigern in diese Welt, die aber dann auch etwas besonderes offenbaren kann.

Hofer: Zum Beispiel hier die Erkenntnis, daß trotz dieses hoffnungslosen Unterfangens etwas wie Hoffnung gegeben sein muß?!

Neuwirth: Ja. Ich habe selbst in Amerika Baseball gespielt. Das war etwas wunderbares. Zwischen Geschwindigkeit, Strategie, Werfen und Treffen oder doch nicht. Daß Auster das in ein starres System gebracht hat, also ein Geschwindigkeits-Spiel auf Stasis reduziert hat, ist schon sehr skurril. Er beschreibt das alles nur durch Sprache. In der Unterhaltungsindustrie der herkömmlichen Spielzeug-Welt hat das natürlich kein Mensch verstanden bzw. verstehen wollen. Man hielt Auster einfach für einen Spinner.

Hofer: Also das Tempo, auch ein musikalischer Parameter, wird suspendiert. Wie gehst Du nun mit diesen inneren und äußeren Räumen als Klangraum um? Wird das unterschiedlich ausdifferenziert – diese Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt?

Neuwirth: Zu den inneren Räumen gehören die “hand to mouth”-Texte und das “Action Baseball”. Das wird meistens vom Ensemble begleitet, in immer wiederkehrenden, sich ähnelnden Mustern und ereignet sich immer nur vorne auf der Bühne. Der Raum ist klein, der Klangraum ist enger. Im Gegensatz zu den “Red Notebook”-Texten, die meist in den Raum projiziert werden. Da gab es wieder einen unglaublichen Zufall: mein Lieblingston ist D – und genau auf dieser Tonhöhe spricht Auster ...

Hofer: ... wirklich nur Zufall ..?

Neuwirth: ... ich dachte, das gibt es überhaupt nicht. Jedenfalls lasse ich hier die Stimme des Autors durch einen string-resonator sprechen, den Thomas Musil so fein programmiert hat, damit die aufgenommenen Texte einen anderen Charakter als die “hand to mouth”-Passagen erhalten. Das ist dann so, als ob unzählige große Saiten schwingen würden, die die Obertöne von D im ganzen Raum verstärken und auffächern. Ansonsten ist das hörspielartiger und starrer gehalten. Ich gebe keinen Kommentar zum Zufall ab. Sondern die verschiedenen Texte sind jeweils mit anderen Räumen verbunden.

Hofer: Da ist dann noch die schon angesprochene Ebene der drei Songs “no more secrets, no more lies”, die quasi als Zäsuren ins Werk eingelagert sind. Diese Song-Texte hat Andrew Patner für dich verfaßt.

Neuwirth: Ich habe ihm meinen Wunschinhalt dafür skizziert. Und er hat das wunderbar à la "Zweites Dreigroschenoper Finale"von Weill umgesetzt. Als Georgette Dee dann diese Texte gelesen hat, hat sie auf phantasievolle Weise mit eigenen Texten darauf reagiert. Einige davon fand ich so spannend, daß ich sie beibehalten habe. Und die werden nun zu den gesungenen Patner-Passagen gesprochen, wie ein Kommentar.

Hofer: Also auch hier ein in sich differenziertes, raffiniert aufeinander bezogenes Verhältnis zwischen Wort- und Tongestalt.

Neuwirth: Und wichtig für mich ist noch: es kommt alles so, wie vom Wind zugetragen. Diese Songs kommen eigentlich aus dem Nichts. Als ob einem der Wind eine plötzliche Erinnerung zuweht. Dann ist sie einfach wieder weg.

Hofer: Der Titel des gesamten Werks, das wäre die nächste Frage, zitiert Paul Virilio. Und dieses “... ce qui arrive ...” ist alles andere als harmlos. Da geht es um die Allianz von Geschichte und Katastrophe, bis herein in unsere Gegenwart. Eine Ausstellung im Jahr 2002. Der Titel eröffnet nun verschiedene Assoziationshorizonte. Zunächst einmal tendiert das zum Zufall – was da kommen wird. Aber da leuchtet auch Walter Benjamins “Engel der Geschichte” herein, wo der Fortschritt mit dem Sturmwind des Vergangenen und der Akkumulation von Katastrophen der Jetztzeit konfundiert wird.

Neuwirth: Genau. So wie ein Spiegel. Ein Spiegel der Menschheit. Aber ich muß da eine andere Zufallsgeschichte anfügen: Ich hatte nämlich zuvor einen anderen Titel für das Projekt. Der Teil aus Austers “from hand to mouth”, auf den ich abhebe, heißt eigentlich “money chronicles”. Und indem ich die “Red Notebook”-Passagen dazu nahm, dachte ich zunächt, daß es eine Art von Chronik wird. Die Idee der Chronik schien mir dann aber zu stark fixiert auf ein dokumentarisches System. Davon habe ich mich immer weiter weg entwickelt. Ich wollte kein Auster-Dokumentar-Hörspiel. Und da hat dann der Zufall mich wieder einmal getroffen. Indem mir eine Triestiner Bekannte diesen Ausstellungskatalog von “... ce qui arrive ...” gezeigt hat. In diesem Moment habe ich erkannt: der Zufall als Katastrophe kann Dimensionen von ungeahnten Ausmaßen annehmen. Gewisse Natur- oder technische Katastrophen bewirken, daß der Mensch so erstarrt, daß er überhaupt nicht mehr reagieren kann. Das ist dann etwas wie der unbewohnbare Ort. Von da an wußte ich, es muß “... ce qui arrive ...” heißen. Denn letzten Endes geht es in dem Stück um die Frage: Ist die Welt noch bewohnbar?

Hofer: Da bin ich mir, was die Bedingungen und Möglichkeiten eines wirklich fundierten Humanums betrifft, auch nicht mehr so sicher.

Neuwirth: Was zuletzt dennoch bleiben soll: Auch im absoluten Nullpunkt, im Grunde der Katastrophe, kommt es ja doch wieder zu einer Ahnung von Utopie. Das kann gerade das Spannende sein. Deshalb möge das gesamte Stück schon auch eine große, hoffnungsvolle Klarheit ausstrahlen. Es gibt darin leichte, luzide Momente. Aber eben auch das Gegenteil davon.

Hofer: Das zeichnet dich als Komponistin ganz besonders aus – daß du in diesen extremen Kontrasten sehr konkret denken kannst. Da gibt es keine willkürlichen Widersprüche, sondern das ist immer auch in allem Raffinement sehr reflektiert. Auch hier, wo es sich um politisch-gesellschaftskritische und humanistische Ansätze im Werk dreht. Ich möchte mich genau hier ad vocem Olga Neuwirth zuwenden mit der Frage: war der Auster-Fund in dieser Allianz Zufall? Anders gefragt: Wo kam die Idee her, wie hat sie sich im Laufe deiner produktiven Arbeit entwickelt und verändert? Die Sache selber ist ja ziemlich komplex. Nur um die verschiedenen Kategorien einmal anzusprechen: Raum, bewegtes Bild, musikalisch verzweigter Strom als mehrschichtiger Zeitstrom, der vokale Ausdruckscharakter in seinen Differenzierungen – irgendwie geleitet mich dies alles zur Frage: also doch Gesamtkunstwerk? Oper auf Umwegen?

Neuwirth: Das ist schon interessant: warum es ist, wie es ist. Das hängt nämlich in gewisser Weise mit “Lost Highway” zusammen. Bevor ich auf diesen Stoff gekommen bin, wollte ich unbedingt, daß mir Paul Auster ein Libretto schreibt, welches ja zu einem bestimmten, fixierten Zeitpunkt fertig sein mußte. Das war mein erster Kontakt mit ihm. Auster war seit seiner “New York Trilogie” mein “Hero”. Mir ist sein Schreiben so nahe: ich habe nie gedacht, es sei so irrational, was er beschrieben und aufgezeichnet hat. Mir wurde - auch aus eigenen Erfahrungen - klar: das ist so. Das Leben ist einfach so. Wenn man wirklich hinschaut und hinhört. Wenn man wegschaut, will man verschiedenes aus seinem Leben ausklammern. Also Auster saß immer im Hinterkopf. Nachdem er damals aber an einem neuen Buch arbeitete, konnte er das Libretto für mich nicht machen. Er sagte sinngemäß: Gerne, aber ich bin ein Maniker und ich ziehe nun zuerst mein Buchprojekt durch. Das habe ich sehr gut verstanden, weil ich genau so manisch bin. Wenn man an einem Projekt wirklich dran ist, dann gibt´s keine Ablenkung, dann geht´s ab. Die Verwirrtheit der Welt ist dann besser im Kopf aufbewahrt.

Hofer: “Pardon wird nicht gegeben”. Interessant aber: die Vorgeschichte zur verlorenen Idee einer Oper wird wiedergefunden und zur fixen Idee, zum Gedankenbild eines neuen Projekts. Nunmehr ganz anders. Was aber war zuerst? Das Video, oder die Raum-Klang-Vision? Du verfügst ja über ein großes kompositorisches Erfahrungspotential im Umgang mit anderen Medien.

Neuwirth: Nun, hier war es so, daß das Video substantielle Voraussetzung für die Realisierung des Gesamtprojekts war. Damit hatte ich aber überhaupt kein Problem. Aber Stummfilm mit live-Musik allein schien mir von vornherein unadäquat. Leinwand mit nur davor sitzendem Ensemble, das konnte es nicht sein. Da hat uns Andy Warhol schon in den 60-er Jahren mit "Exploding Plastic inevitable" sehr Eindruckvolles vorexerziert. Es brauchte also für “... ce qui arrive ...” ein durchkomponiertes Raumkonzept. Da das Stück von Graz aus auf internationale Tournee geht und die verschiedenen Konzerthäuser so unterschiedliche Aufführungsbedingungen haben, bedurfte das besonderer Überlegungen. Das Grundproblem dabei: wie kann man zwischen den Ebenen der Zweidimensionalität des Videos und der dreidimensionalen Erscheinung der Interpreten sinnvoll vermitteln. Ich glaube, wir haben eine mögliche Lösung gefunden. Durch die Projektion des Videos über die weiß gekleideten Musiker, die auf weißen Stühlen sitzen und dahinter die Leinwand. Die Kameraeinstellung ist wie ein unveränderter Rahmen. Im Hintergrund aber der weite, bewegte Raum von Himmel und Meer. Davor die Figur in Bewegung, als ob sie eine Identität suchen würde. Diese Art und Weise, auch der farblichen Behandlung (dank eines bestimmtes Konzepts wird die Couleur der Bilder durch die erklingende Musik verändert), hat etwas von Werner Schroeter-Filmen. Diese trashige Opernhaftigkeit und Dramatik. Fast wie ein Kommentar zu einem Musiktheater.

Hofer: Ad Olga Neuwirth, die zweite. Folgende Frage: was hast du für ein Verhältnis zu Zufällen. Oder was ist der Zusammenhang zwischen Zufall und Unfall und Glücksfall? Gibt es bestimmte Begegnungen oder Orte des Zufalls in deinem persönlichen Leben?

Neuwirth: Für mich ist es immer nur die Frage: welche Macht hat der Zufall für ein Leben. Manchmal weiß man nicht mehr: ist das noch wahr oder phantastisch? Insofern wird auch dieses ganze Stück ein enigmatischer Leviathan bleiben, wenn wir schon bei Auster sind: so ist das Leben ...

Hofer ... unverhofft kommt oft, heißt es ...
Neuwirth: ... es ist aber oft auch so, daß Wiederkehr Stasis erzeugt: ja, das kann der Zufall auch auslösen ...

Hofer: ... das hätte am Schluß doch wiederum mit dem Verhältnis von Zufall und Schicksal zu tun?

Neuwirth: Dieser U-Topos war für mich sehr wichtig. Deshalb bin ich auch auf Wind und Wasser gekommen. Man hat als Mensch oft keinen Boden mehr unter den Füßen. Deshalb geht es mir um den Nicht-Ort. Auch in der Katastrophe. Der unbewohnbare Ort – wie gesagt. Dieser Schwebezustand ist so faszinierend wie beängstigend.

Hofer. Stichwort: zu den (zufälligen?) Ambivalenzen zwischen den Elementen und dem Elementaren.

Neuwirth: Oder das Rationale. Viele versuchen einfach alles im Leben alles mit Rationalität und vernunftzu klären. Das kann leicht dazu führen, daß es zu einem ermüdet immergleichen Denken kommt, weil man das Unerklärliche ausschalten will. Der Zufall bedingt, daß der Mensch erkennen muß: es ist nicht alles steuerbar, aber das muß ja nicht von vornherein als etwas negatives angesehen werden.

Hofer: Ernst Bloch hat einmal einige Zufallsgeschichten quasi linker Hand aufgezeichnet. Das geht sinngemäß so: Napoleon hat eine Biographie Julius Cäsars verfaßt, fand aber keinen Verleger. So ist er nicht Schriftsteller, sondern Napoleon geworden. Hegel wollte eine Geschichte der Philosophie für die Schule verfassen, daraus ist die “Phänomenologie des Geistes” geworden. Richard Wagner wollte endlich eine Erfolgsoper in italienischer Manier schreiben, darüber ist dann “Tristan und Isolde” entstanden. Das ist schon eine spannende Dialektik von Zufälligkeiten. Das mit dem Paul Auster bei Dir, war nun alles andere als Zufall.

Neuwirth: Die “New York Trilogie” habe ich mit zwanzig Jahren gelesen. Das war kurz nach dem Autounfall. Dieser war ein Auslöser. Darum kommt auch die Trompete in dem Video vor, das will ich gar nicht verhehlen, weil mir die Trompete durch den Unfall genommen wurde. Eines Tages war es plötzlich – zack – aus damit. Und zwar eben vollkommen unerwartet. Das wirkt zunächst wie eine Katastrophe. Aber andererseits kommt man auf einen anderen Weg. Und man muß mit diesem Weg umgehen. Ob man damit glücklich wird, ist noch eine andere Sache. Man hat etwas nicht von vornherein ganz freiwillig gemacht. Oder es war notwendig, weil man da hinkommen mußte...

Hofer: Da sind wir im Reich der Notwendigkeit und der Freiheit. Aber wie ist es überhaupt bestellt um das Verhältnis von Wille und Zufall, in einer Welt aus Wille und Vorstellung?

Neuwirth: Bei meinen beiden Unfällen war es so, daß ich auf keinen Fall mit wollte. Beim ersten Autounfall habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Mein Wille hat versucht, sich dagegen zu wehren, aber der Wille hat sich nicht durchgesetzt. Das zweite Mal war jetzt es wieder so: ich habe mich geweigert bei Schnee auf den Berg Richtung Alban Berg-Villa zu fahren und mußte es trotzdem tun. Es scheint so zu sein, daß mein Wille nicht siegen kann.

Hofer. Der siebte Sinn ist zwar da, aber das hilft nichts.

Neuwirth. Ja. In meinem Leben ist der Zufall größer. Meinen Willen habe ich noch nie durchsetzen können ...

Hofer: ... da würde ich nun entschieden Einspruch erheben, euer Ehren. Aber ich habe, hier her passend, ein weiteres Stickwort in petto: “corriger la fortune”. Und zwar verbunden mit einer Anekdote, die von Rousseau überliefert wird. Er hat nämlich einen Baum der Erkenntnis, der Wahrheit gepflanzt, derer man aber nur habhaft wird, wenn man mit einem Stöcklein mitten ins Zentrum des Stammes trifft. Dann war man auf der Spur der Wahrheit. Nun hat Rousseau zunächst immer daneben geworfen. Und als er endlich dann doch ins Zentrum traf, hat er die Fehlwürfe einfach annulliert, für ungültig erklärt. Das seien nur Versuche gewesen.

Neuwirth: Das ist eine klare Manipulation des eigenen seins, ein Verdrängen des eigenen Scheiterns, eine Selbstbelügung. Eine Überlistung des eigenen Ich ...

Hofer: ... aber durch die List des Zufalls treibt es ihn doch auf die richtige Spur.

Neuwirth: Ja, genau. So war das auch mit meinem ersten Unfall. Vielleicht hat das so sein müssen. Daß ich Komponistin geworden bin. Also nicht aus freiem Willen, sondern weil mir ein anderes Ausdruckmittel genommen wurde. Man sucht und sucht und eiert herum und dann trifft man plötzlich doch den Baum. Aber ich glaube gar nicht so sehr an den Baum der Wahrheit und der Erkenntnis, ich glaube eher an Andrzei Tarkovskys Baum im “Opfer”. Der Protagonist pflanzt da am Anfang einen Baum, der kann gar nicht wachsen. Der Baum ist kaputt. Aber obwohl er kaputt ist, glaubt der Vater daran und vermittelt auch seinem Sohn damit, daß es eine Hoffnung immer geben muß.

Hofer: Das Bild, das du da beschreibst, hat fast etwas Beckett-haftes – “Warten auf Godot”.

Neuwirth: Man ist auf einem unendlichen Weg und man scheitert immer wieder, das ist Selbsterkenntnis durch Hinterfragung für mich. Aber man muß weiter hoffen. Mir ist dieser Hoffnungsgedanke lieber, als ständig sinnlos gegen eine Mauer zu rennen, bis man endlich Erkenntnis findet. Man muß von vornherein über sich und die Welt reflektieren und nichts in seinem Leben verleugnen und verdrängen, denn das kommt ohnehin alles wieder hoch, ob man will oder nicht.

Hofer: Es gibt auch die Wendung “Glück im Unglück”. Wie Du das hier mit den neuen und anderen Wegen beschreibst.

Neuwirth: Der Zufall hat immer die beiden Seiten in sich. Das positive und das negative sind die zwei Seiten der Medaille. Auch bei Menschen. Man trifft zum Beispiel auf Menschen, die können einen stark beeinflussen, positiv wie negativ. So kann man auch “corriger la fortune” von zwei Seiten sehen. Einerseits, daß einen der Zufall in eine Richtung lenkt, an die man nicht gedacht hätte, wie diese Lenkung durch den Schlag von einem Zen-Meister. Andererseits ist es oft eine Selbstmanipulation, eine Selbstverleugnung, die dann erst recht ins negative umschlägt.

Hofer: Der Zufall läßt sich auch als positive Fügung nicht erzwingen. Das ist offenbar die Autonomie des Zufalls.

Neuwirth: Es steckt beides in ihm drinnen. Darum hat man ja auch so Angst vor ihm.

Hofer: Aber Dir scheint doch insgesamt, wenn man alles zusammennimmt, im “Prinzip Zufall” ein Mehr an schattenhaften denn an Glücks-Momenten. Oder läßt sich da gar nichts quantifizieren.

Neuwirth: Ich glaube nicht. Denn es ist alles möglich. Wichtig ist, wie man darauf reagiert: das Handeln. Deshalb gibt es in "...ce qui arrive..." auch den Song “no more secrets, no more lies”.

Hofer: Das hätte man als Forderung zu begreifen, als Appell, als Aufforderung. Nach dem Motto: “Schluß damit, fangen wir an”. Aber ich kam jetzt deshalb darauf, weil es im Englischen “by chance” heißt. Da steckt auch etwas von der Chance darin.

Neuwirth: Genauso im Italienenischen “per caso”. Iim Deutschen heißt es nur Zufall.

Hofer: Aber es scheint sich jetzt doch immer mehr heraus zu kristallisieren, daß der Zufall die Welt entscheidend bewegt.

Neuwirth: Weil er die Absichten hintergeht. Der Mensch hat ja ständig irgendwelche Absichten, Regel und Normen, die er errichtet, im Politischen und im Sozialen und Zwischenmenschlichen. Alles muß rational erkennbar und begreifbar sein. Das wird von Zufall unterlaufen. Wir können eben nicht alles im Griff, unter Kontrolle, haben. Das ist unmöglich. Es geht auch gegen die Zweidimensionalität der Mathematik, alles berechnen zu wollen. Das wird vom Zufall auf härteste Weise verweigert.

Hofer: Und der Zufall ist kein abstraktes Prinzip, sondern oft sehr konkret und höchst folgenreich. Also da ermordet jemand einen Thronfolger in Serbien und plötzlich sind wir mitten im Weltkrieg.

Neuwirth: Die Ermordung war aber geplant, nicht zufällig, dennoch kam es zum Schmetterlingseffekt. Der Zufall ist zumeist ein Auslöser von etwas. Was vom Menschen nicht vorhersehbar ist. Das kann eben in die Katastrophe führen. Doch das Wunderbare am Zufall ist auch: er richtet sich gegen die Enge des Denkens. Es werden Räume aufgebrochen, von denen man vorher keine Ahnung hatte.

Hofer: Das Unwillkürliche, die Plötzlichkeit, der Umschlag. Gibt es jetzt in Sachen Zufall zufällig noch etwas anderes neben Paul Auster, das Dich in der Literatur beschäftigt hat?

Neuwirth: Vielleicht noch die short-stories von Patricia Highsmith. Wiederum das detektivische Moment, aber dann vor allem die menschliche Psychologie: wo Dinge, meist zwischen Menschen, eintreten, mit denen der Mensch nicht umgehen kann. Da geht es meist um zwischenmenschliche Beziehungen. Es kommt meist zu ausweglosen Situationen, Beklemmungen, da man nicht weiß, in welche Richtung es gehen wird. Eine Schwärze hält Einzug, wie bei Paul Auster verbunden aber mit einer sprachlichen Leichtigkeit.

Hofer: Ja – diese “unerträgliche Leichtigkeit des Seins”.

Neuwirth: Weil die Menschen immer glauben, man muß die Leichtigkeit erzwingen. Das geht aber nicht, die läßt sich nicht erzwingen! Also ich kriege da Zustände. Die muß von selbst entstehen und die bedingungen dafür müssen stimmen. Auster untergräbt in seinen Stories die oberflächlichen Einstellungen, wie unsere Welt zu funktionieren habe. Es gibt eben so viele unerklärliche Dinge, die anderes als erwartet, auslösen. Das muß man sehr wohl sehen und erkennen. Aber da fällt mir noch etwas ein, was ich schon früh, mit sechzehn Jahren gelesen habe: “Die Brücke von San Louis Rey” von Thornton Wilder. Übrigens auch eine wahre Geschichte: warum sind genau diese sechs sehr unterschiedlichen Menschen ausgerechnet zu dieser Zeit auf der selben Bücke, als sie einstürzt? Und ein Priester, der den Einsturz beobachtet hat versucht nun herauszufinden, wie alles mit allem in dieser Katastrophe zusammenhängt. Das hat mich sehr fasziniert damals.

Hofer. Also es ist wirklich nichts zufällig, was uns so zufällt.

Neuwirth: Nicht wirklich. Nach meinem Motorad-Unfall hat mir Betty Freeman geschrieben: “Olga, Olga, ich weiß schon, wie das bei Dir immer wieder ist. Ich möchte Dir nur dies sagen: Das Leben ist Schicksal”. Diese Häufung von Zufällen kann es nicht geben. Das ist vorbestimmt. Natürlich will man so etwas nicht wahr haben. Aber wahrscheinlich hat sie recht. Sie ist ein Mensch, der von vornherein erkannt hat, daß für eine Person nichts zufällig eintritt.

Hofer: Schicksal, heißt es einmal bei Walter Benjamin, ist der “Schuldzusammenhang des Lebendigen”. Natürlich ist damit die Tradition der antiken Tragödie angesprochen: die Götter bestimmen das Schicksal, es gibt keinen Ausweg – siehe das Geschlecht der Atriden, siehe Ödipus. Es fehlt das Moment, das dann erst im Trauerspiel auftaucht, daß es die Möglichkeit der Emanzipation des Individuums gibt, auch durch das Medium der Reflexion. Dadurch wird die Macht des Schicksals ein wenig modifiziert. Es öffnen sich Fluchtwege. Zum Beispiel auch darin, daß es den Menschen gelingt, “heraus zu treten aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit”. Also es kommt ein Impuls von Aufklärung hinzu, auch von List der Vernunft. Odysseus/Ulysses stünden hier gemeinsam als Leitfiguren an der Grenze des Fruchtlands. Und es eröffnet sich auch die Chance: durch Mündigkeit einzugreifen, im Sinne von Fortschritt, Humanum und Utopie. Aber es droht immer zu scheitern. Und die wenigsten machen es in der Realgeschichte.

Neuwirth: Es ist eben ein Problem des Menschen, auch die Theorielastigkeit ohne dazugehöriger Praxis. Darum interessiert mich immer wieder: der Mensch – und wie er auf Dinge reagiert. Er handelt an sich schon viel zu wenig selbstbestimmt. Und wenn dann noch der Zufall dazu tritt, ist er sowieso lahmgelegt. Der Mensch läßt sich viel zu leicht irritieren. Würde er eigenständiger reflektieren, müßte er doch z.B. versuchen, im zwischenmenschlichen Bereich den Zufall und das Schweigen durch Kommunikation auszuschließen. Sonst nimmt man den anderen Menschen eigentlich nicht ernst. Aus Respektlosigkeit. Man nimmt ihm die Würde. Sicher waren die Götter in der antiken Vorstellung völlig respektlos. Deshalb habe ich das Stück geschrieben: “Marsyas”. Das ist nicht nur ein Paradigma für den Künstler, sondern für den Mensch an sich. Wenn sich jemand abrackert aus Leidenschaft (dazu gehört auch das Leid) zu einer Sache und sein Widerpart, sei es ein Einzelner, eine Institution, Volk oder Staat – gut hier ist es ein Gott –, so allmächtig an sich glaubt und eh von vornherein weiß, daß er gewinnt, oder der Stärkere oder der Wissendere ist, dann mißachtet er den anderen Menschen. Das kann und darf doch nicht sein! Wer von vornherein glaubt, er sei besser als ein anderer, ist herablassen und ungeheuer mickrig. In dieser Hinsicht werde ich langsam immer konsequenter und härter: das kann ich nicht mehr akzeptieren. Damit will ich nichts zu tun haben.

Hofer: Miteinander also, nicht gegeneinander. Das Fremde und Andere wenigstens tolerieren.

Neuwirth: Natürlich! Das wird auf gewisse Weise auch bei Virilio thematisiert. Er stellt die technischen, vom Menschen selbst gemachten Katastrophen den Naturkatastrophen gegenüber, die freilich auch vom Menschen verursacht sein können. Durch Nonchalance gegenüber Folgen, Gleichgültigkeit und Besserwisserei, indem alle Warnungen in den Wind geschlagen werden.

Hofer: Das hat alles mit einer “Dialektik der Aufklärung” zu tun. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur: es geht ja gar nicht um Naturbeherrschung, sondern um die Beherrschung des richtigen Verhältnisses zu ihr. Aber ich hätte da noch ein weiteres Stichwort: “der blinde Zufall”.

Neuwirth: Das ist sozusagen eine umgangssprachliche Wendung dafür, daß man den Zufall nicht sehen kann. Es ist eine Visualisierung des Zufalls, indem man ihn eben nicht sehen kann. Eigentlich ein Art Verdoppelung, Verstärkung des Wortes.

Hofer: Ich finde nur die Wendung so schön, dieses Bild ...

Neuwirth: ... ja, das ist schön. Er ist doch auch blind, der Zufall, er tapst irgendwo hin ...

Hofer ... und da gibt es dann die Shakespearsche Wendung: “Deshalb schuf Zeus den Gott der Liebe blind” ...

Neuwirth: ... was ja auch stimmt ...

Hofer: ... aber deshalb schießt Amor doch auch so oft daneben ...

Neuwirth: ... er trifft einfach wirklich oft die Falschen. Aber im Ernst: es geht um die Liebe und das Irrationale und Unvernünftige. Wie wunderbar! Deshalb ist das auch ein unglaubliches Bild für den Zufall. Eigentlich ist Amor der pure Zufall. Mit den zwei Seiten einer Medaille. Oft wird eben daneben geschossen. Jegliche Rationalität wird ausgeschaltet. Und wenn man später, mit Abstand, nachdenkt über den Casus, fragt man sich: “ja bitte schön: war ich blind? Blind vor Liebe?” – Der Zaubertrank ist es auch, der Verwechslungen und Blindheit auslösen kann (siehe "Tristan und Isolde"). Eine Aktion, das Abschiessen des Pfeiles, wird getätigt. Und der kann man nicht entkommen... im positiven wie im negativen.

Hofer: “Tristan und Isolde” ist ein Nachtstück. Es kann nur da spielen. Wenn die Nacht der Liebe herabsinkt, kann die Welt untergehen oder sonst was – das ist den beiden “der Nacht Geweihten” vollkommen egal.

Neuwirth: Es ist “der andere Zustand”. Das gefällt mir auch an dem “Guten Gott von Manhattan” von Ingeborg Bachmann so gut. Dieses schöne Bild: die Liebenden gehen in einem Hochhaus immer höher nach oben, in ihrer Liebe zueinander. Aber im letzten Moment, im letzten Stock geht er weg, weil er sich angeblich etwas zu essen holt. Also er verläßt diesen Zustand und schon tritt die Katastrophe ein, indem sie da oben allein stirbt. Einer steigt immer aus. Bei “Tristan und Isolde” oder bei “Romeo und Julia” ist es der gesteuerte Zufall durch die Gesellschaft, der diese Katastrophen auslöst. Der andere Zustand verstößt gegen die Regeln der gesellschaftlichen Verhältnisse und Vereinbarungen. Der irrationale Zustand darf nicht sein, weil er die Non-Konformität repräsentiert und daher irritiert. Der Ordnungsruf lautet dann: “seid vernünftig!” Warum eigentlich? Ganz im Gegenteil!

Hofer: Dieser Ausnahmezustand ist wohl nur über das Medium der Kunst herstellbar – was Du meinst mit den utopischen Momenten dieser Gegenwelt. Der “andere Zustand” ist ja vielleicht auch das geheime Scharnier zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit in Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften”.

Neuwirth: Dieses Kakanien muß es ja irgendwo geben. Auch wenn es auf keiner Landkarte verzeichnet ist, man muß immer weiter suchen. Auch nach den richtigen Orten für Zufälle. Sonst kommt man in die Krise, weil man blutleer wird, wenn man alles stets unter Kontrolle haben will.

Anhang:
Sätze vom Zufall
Paul Auster: Chance is a part of reality.
Georges Bernanos: La vie quotidienne est aujourd´hui devenue un pur hazard. Un accident permanent.
Paul Virilio: L´hazard est une loi pour sauver la nuit.



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