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Interview mit Olga Neuwirth von Reinhold Schulz, August 2002

Das Schaffen der 1968 in Graz geborenen Komponistin Olga Neuwirth bildet einen Schwerpunkt der diesjährigen Klangspuren. Sie hat in den letzten zehn Jahren immer deutlicher auf ihr Wirken aufmerksam gemacht und zählt heute zu den wichtigesten jungen Komponisten/innen in Europa. Ursprünglich kam sie aus der Jazz-Szene, seit dem siebenten Lebensjahr lernte sie Trompete. Ein Autounfall schnitt diese Entwicklung jäh ab, Olga Neuwirth wandte sich darauf verstärkt dem kompositorischen Wirken zu. Sie studierte von 1987 bis 1993 bei Erich Urbanner, danach bei Tristan Murail in Paris. Wichtigen Einfluss übten darüber hinaus Komponisten wie Adriana Hölszky und Luigi Nono auf sie aus. Sie schrieb Kammermusik, Orchestrales, diverses für Theater oder den Rundfunk. 1999 wurde ihr Musiktheater in 13 Bildern nach Leonora Carrington (Librettofassung: Elfriede Jelinek) “Bählamms Fest” in Wien uraufgeführt. Derzeit lebt Olga Neuwirth in Berlin, wo auch das folgende Interview statt fand. Das Gespräch entwickelte sich freilich anders als geplant (also nach der Art des Schaffens, nach Ästhetik, nach Plänen etc.), hin auf die allgemeine Frage nach dem Sinn heutigen Komponierens - und trotzdem...

Reinhard Schulz: Hansjörg Pauli hat vor 30 Jahren einmal die Frage an Komponisten gestellt: “Für wen komponieren Sie eigentlich?”

Olga Neuwirth: Das hatte damals eine andere Relevanz. Heute kann man die Frage kaum mehr stellen, denn Komponieren ist immer sinnloser geworden. Wenn ich vor Jahren kokettierend noch sagte, wir seien Dinosaurier mit einer Fehlentwicklung des Hirns, so habe ich heute diese Leichtigkeit nicht mehr. Ich muss mich wirklich jeden Tag nach dem Sinn fragen, was ich da tue. Es dauert einfach zu lange, das Leben geht vorbei und man schreibt noch ein Stück und noch ein Stück; ich habe jetzt eigentlich alles durch von der Kammermusik bis zur Oper und zur Elektronik. Gesellschaftlich hat das aber null Resonanz. Die jungen Leute bleiben aus, wenn man aber in ein Minimal-Konzert geht wie ich letztlich (nicht einmal gute Minimal-Music), dann flippen die Leute total aus. Da frage ich mich, warum ich stundenlang am Schreibtisch sitze, nicht für wen ich komponiere, sondern warum ich überhaupt noch komponiere. Das ist die wichtigere Frage. Denn wir üben ein altes Handwerk aus, das absolut anachronistisch geworden ist und heute überhaupt keinen Platz mehr hat. Man malt Pünktchen aufs Papier.

RS: Was ist denn anachronistisch: Diese Art zu schreiben oder überhaupt ernsthaft sich mit Musik zu beschäftigen?

ON: Der Glaube an strukturelles Denken. Dafür setzt man Monate seines Lebens ein, und das hört keiner und interessiert keinen. Man verliert sein Leben darüber. Es ist das Perverse unseres Musikbetriebs. Er ist auf Uraufführungen fixiert, dafür produzieren wir. Es geht dem Betrieb um die Uraufführung, um diesen Event, nicht um die Musik. Das heißt für uns, dass wir uns ständig immer etwas Neues aus dem Hirn saugen müssen.

RS: Früher tröstete man sich doch noch mit der Utopie, dass die Zukunft das gute, das bedeutende Werk einholt. Gilt das nicht mehr?

ON: Nein. Absolut nicht.

RS: Wie ist es zum Beispiel mit Nono oder Boulez?

ON: Das war die letzte Generation, die diese Möglichkeit hatte. Die Generation nach 45 konnte noch einmal Musikgeschichte schreiben. Jetzt ist das für diese Art von Musik vorbei. Sie hatte ein Ziel, dort hin konnte sie bis an die Grenzen gehen. Heute ist alles, gut, schlecht, kompliziert, banal, elektronisch oder Oper einfach austauschbar.

RS: Du machst doch gerne Musik?

ON: Ja, natürlich mache ich das gern. Aber ich muss mich fragen, warum ich es so mache, warum ich diesen Aufwand betreibe.

RS: Gibt es andere Möglichkeiten?

ON: Ich müsste einfach banalere Musik schreiben. Einfacher strukturierte.

RS: Wäre das befriedigend?

ON: Es geht einfach darum, was ein Leben ist. Ich komponiere seit meinem 15. Lebensjahr, jetzt bin ich 33. Ich habe immer an diese Musik geglaubt und das ist eine blöde Naivität. Die Musik gibt mir ja nichts zurück, höchstens dass ich stolz bin, dass wieder ein Stück gut gelungen ist. Ich möchte einfach mehr Zeit für eigenes Erleben haben.

RS: Hatten das die Komponisten früher, etwa Schubert, Beethoven, Bruckner?

ON: Komponieren war schon immer aufwändig. Aber heute ist der Druck größer. Alles muss so schnell gehen, es ist instant. Und wenn man dann noch merkt, dass das Publikum immer mehr abnimmt...

RS: Tut es das wirklich? Donaueschingen, Münchner musica viva, vieles andere hat Zuwachs, Zulauf von Jüngeren.

ON: Das sind gewachsene Strukturen. Wien modern hatte zum Beispiel in Abbado eine große Identifikationsfigur. Aber sonst hat neue Musik einen Negativ-Touch. Wenn mich Leute im Zug fragen, was ich mache, ist es mir fast peinlich zu sagen, dass ich moderne Musik komponiere. Dann höre ich: “Aber doch bitte nicht diese neue scheußliche Musik.” Musik ist die konservativste Kunstsparte. Sie muss ans Herz gehen, muss Rhythmus haben. Keiner fragt, was Musik sein könnte. In den anderen Kunstrichtungen geht das. Musik hingegen verstaubt zusehends.

RS: Glaubst du, dass mehr Leute Joyce lesen als Leute Schönberg hören?

ON: Musik ist eine terroristische Kunst. Sie zwingt die Menschen sich zu konzentrieren, sich Zeit zu nehmen. Die haben wir immer weniger.

RS: Könnte es nicht sein, dass ein veralterter Betrieb, nichts scheint mir mehr veraltet als zum Beispiel ein Opernhaus, Stücke wünscht oder vorschreibt, die ein neues Publikum gar nicht mehr akzeptiert?

ON: Ja, so ist es. Aber ich kann es immer weniger. Es gibt da diese Opernhäuser und die sind auf traditionelles Repertoire abgestimmt. Sie wollen neue Opern, weil sich das eben gehört. Ich kann nicht so etwas bedienen, weil ich einfach 200 Jahre später geboren bin. Es gibt genügend Komponisten, die das machen. Musik kann man immer erfinden und sich dann einreden, dass es ok ist. Ich will mich mit dieser selbst errichteten Identität dieser Institutionen nicht abfinden. Und dieser konservative Zustand ist in letzten Jahren eher noch schlimmer geworden.

RS: Du hast vorhin vom strukturellen, vom konstruktiven musikalischen Denken gesprochen. Gibt ein Gelingen in dieser Hinsicht nicht wenigstens Dir eine Form von Befriedigung. Im Sinne: Ich habe meine Arbeit gut getan?

ON: Das habe ich ja die ganze Zeit gemacht. Aber die Kräfte verlassen einen. Es ist wie wenn man gegen Windmühlen kämpft.

RS: Das hat Don Quichotte auch getan; nicht umsonst, glaube ich. Mit Sancho Pansa zusammen entstand ein Bild bürgerlichen Bewusstseins.

ON: Ich bin voll auf der Seite von Don Quichotte. Aber das bürgerliche Bewusstsein existiert heute nicht mehr. Wenn mir das vor zehn Jahren mein Onkel (Gösta Neuwirth, R.S.) erzählte, habe ich ihn ausgelacht. Aber es stimmt irgendwie. Die Leute meiner Generation haben mit neuer Musik nichts zu tun.

RS: Wer ist dumm? Der Komponist, der dennoch so weiter macht, oder das Publikum, das keine Auseinandersetzung sucht?

ON: Dumm, wenn wird den Begriff schon verwenden wollen, ist für mich der Komponist. Er steckt seinen Kopf in den Sand und sagt es ist alles super, was er macht. Was ich aber auch nicht verstehe ist, dass Musik das Mitdenken immer verhindern soll, Musik soll immer gleich entspannend sein - oder sie ist Entertainment. Das fordert man nicht automatisch von anderen Kunstrichtungen. Der Begriff Musik allerdings ist auf der anderen Seite ungeheuer weit gefasst. Jeder meint was davon zu verstehen, es gibt tausend Vorstellungen von diesem Begriff. Meistens recht verwässerte.

RS: Man kann aber beobachten, ich stelle das zum Beispiel in der DJ-Szene fest (obwohl ich mich da nicht so auskenne), dass Ansätze, die von wo ganz anders her kommen, auch immer wieder zum Komplexeren drängen. Da das einfache Abspulen von Mustern einfach als öde empfunden wird.

ON: Das ist ein interessantes Phänomen. Zum Beispiel der New Yorker DJ Spooky, von dem ich kürzlich in Berlin etwas gehört habe. Das war wirklich echt. Er ist ein unglaublich guter DJ, der gewöhnt ist verschiedene Musikrichtungen in seine Mixes hineinzunehmen. Das klingt dann überhaupt nicht oberflächlich, bei uns aber stimmen die Verhältnisse irgendwie nicht mehr. Wenn ich als neuer Komponist Erfolg haben will, dann muss ich einen banalen Schritt gehen. Dann bin ich aber mir nicht mehr treu und letztlich klingt das dann ziemlich lächerlich. Aber der Spooky, der von dieser elektronischen DJ-Szene kommt, findet in seinem Metier etwas neues. Er behauptet gar nicht, dass er aus der ernsten Musik kommt. Und das ist dann viel experimenteller und viel spannender als wir. Wir sind ein Auslaufmodell und wir tun so, als würden wir noch zur Generation von Nono und Boulez gehören.

RS: Aber jeder Komponist hat doch irgendwie die Aufgabe, ob jetzt nach innen oder nach außen, (sich) klar zu machen oder darauf zu insistieren, dass seine Musik wichtig ist, dass sie ausgesprochen gehört. Hat da die junge Generation, die ab sagen wir 1970 als Opposition zu der vorangegangenen auftrat und vielleicht dem oppositionellen Charakter allein allzusehr vertraute, irgendwo versagt?

ON: Die älteren hatten es leichter. Nach dem Krieg wollte alles neue Strömungen erleben. Man ging hin, weil das eben neu war und so hat man das auch wahrgenommen. Heute gibt es diesen Kick nicht mehr. Heute muss man irgendwo hineinpassen, in ein Soundkonzept, das gut anzupreisen ist, und dann kann man sich verkaufen lassen.

RS: Es ist ja nicht ganz so. Der Name Olga Neuwirth hat ja im Musikleben durchaus seine Bedeutung, sein Gewicht. “Long Rain” fand ich eine ganz spannende Sache, die Oper “Bählamms Fest” setzte ganz neue Akzente im musiktheatralen Bereich.

ON: Aber immer ist mein Name negativ verknüpft mit: “Die ist ja schwierig” - und das kann ich nicht mehr hören.

RS: “Long Rain” ist nicht schwierig.

ON: Aber der Aufwand ist sehr groß.

RS: Das ist doch kein Argument. Jedes bessere Pop-Video verschlingt zwei Millionen Mark. Was “Long Rain” klar macht, intensiviert, nämlich die Gewalt einer unmenschlichen Situation, ist ganz einfach zu begreifen. Der Klang geht einen direkt an. Man muss sich ihm stellen, entweder man verschließt sich oder man setzt sich bewusst seinem Druck aus - und dann geht er ganz tief rein. Hast Du eine Vorstellung oder einen Wunsch, wie Deine Musik rezipiert werden sollte?

ON: Nein, so habe ich noch nie Musik geschrieben. Aber lange Zeit war ich einfach der Kasperl. Man glaubte nicht, dass ich das so wollte. Das man das einer Frau zutraut. Immer sucht man nach neuen Genies - und diese Suche ist immer männlich. Der Musikbetrieb ist einer der letzten, die absolut männlich bestimmt sind. Als Frau muss ich immer wieder aufs neue beweisen, dass ich etwas kann. Und dann gab es so etwas, dass in Donaueschingen einer auf uns zu kam und sagte, die Musik ist faschistisch. Wenn so etwas der Fall ist, dann frage ich mich wirklich, was da noch stimmt.

RS: Wenn Dir auf der Straße einer in den Magen haut und sagt, dass ihm Dein Gesicht nicht gefällt, musst Du doch auch nicht an Dir zweifeln?!

ON: Aber hier irritiert es mich. Es ist eine Frage der Mittel, meiner Mittel. Es hat mich immer interessiert, wie Musik beschaffen sein muss, um solche Assoziationen zu wecken - und um das Gegenteil klar zu machen.

RS: Musik und Politik - das spielte ja bei Dir immer eine gewisse Rolle. Du nimmst Dir kein Blatt vor den Mund, zum Beispiel in bezug auf Jörg Haider, Du schreibst aber auch immer eine Musik, die Stellung bezieht.

ON: Also: Es fehlt uns in der Musik ja immer das Wort, Musik ist immer diffus. Also ist es eher eine grundsätzliche Haltung - interessiert man sich für Außen oder nicht. Wenn ich Sprache verwende, wähle ich natürlich Texte, die Stellung beziehen. Die Musik kann aber dazu nur einen Kommentar liefern.

RS: Ist Musik hier immer also nur Handlanger?

ON: Bei der Verwendung des musikalischen Materials hat man gewisse Möglichkeiten. Meistens über Reduzierung hin auf prägnante Rhythmen, auf Klänge, die vertraut sind. Nono zum Beispiel hat diese bewusste Reduktion immer wieder durchgehalten.

RS: Das hat ja zum Beispiel auch schon Hanns Eisler beschäftigt. Wie schreibe ich eine Musik, die (zumindest potenziell) jeden anfasst - und die sich zugleich von der Musik der Nationalsozialisten fundamental unterscheidet. Ist es nicht auch ein gutes Zeichen. Eine Sonate für, sagen wir, Flöte, Klarinette und Klavier, ordentlich gemacht, würde niemand für faschistisch einschätzen - obwohl ihr ideologischer Hintergrund vielleicht weit faschistischer ist, nämlich in dem Sinne des institutionalisierten Gleichschritts. Eine Musik, die deutliche Reaktionen hervor ruft, zeigt zumindest an, dass die den Menschen angegangen ist. Vielleicht sollte neue Musik von ihrem sensibel gezüchteten “Zirp-Bewusstsein” loskommen.

ON: Aber wenn man Musik macht, die deutliche Reaktionen hervorruft, heißt es gleich, man sei oberflächlich. Es werden so wenig Nuancen gemacht.

RS: Nono zum Beispiel hat durchaus Power-Stücke geschrieben: Como una ola de fuerza y luz.

ON: Ja, darum mag ich ja dieses Stück so besonders.

RS: Du hast sehr viel Stücke geschrieben, die von Angst, von Umzingelung, von Erstickungsangst berichten. Aus solcher Angst heraus entstanden viele bedeutende Arbeiten der letzten Jahrzehnte: von Nono bis zu vielleicht Jimi Hendrix.

ON: Die Leute sind über dieser Angst verbraucht worden, eingegangen. Bob Dylan, der ähnliche Probleme softer anging, lebt noch.

RS: Die russische Komponistin Ustvolskaja - sie gab musikalisch ihr Innerstes und zugleich ihr Äußerstes - lebt auch noch.

ON: Das ist ihr Glaube. Und ich beginne das als Lebensprinzip immer mehr zu schätzen. Das ist eine Stütze, um immer weiter zu machen. Das Zweifeln wird aufgehoben. Als Überlebensprinzip finde ich das interessant. Dass meine Musik von oben kommt, dafür bin ich wahrscheinlich zu realistisch. Aber mich interessiert einfach immer, was der Mensch ist. In der Musik ist das schwer auszudrücken - und trotzdem...



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