olga neuwirth
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Wo zwischen der Moldau, der Donau
und meinem Kindheitsfluß
alles einen Begriff von mir hat.

Ingeborg Bachmann, Prag im Jänner 1964


Vom Schaukeln der Dinge im Strom der Zeit
Olga Neuwirth über ihr Orchesterwerk Masaot/Clocks without Hands (2013)

2010 wurde ich von den Wiener Philharmonikern gebeten, anlässlich des 100. Todestages von Gustav Mahler ein Orchesterwerk zu schreiben. Da ich aber zwei Opern bis Ende 2011 fertig zustellen hatte, musste ich absagen.

Als der Auftrag nach 2015 verschoben wurde, wollte ich dennoch die Idee von 2010 nicht fallen lassen, Mahler zu reflektieren. Ich hatte in dieser Zeit einen Traum, der zum Auslöser der „musikalischen Turbulenzen“ meines Orchesterwerks wurden. Mein Großvater, den ich nie kennengelernt hatte und nur durch Fotos und Erzählungen meiner Großmutter kenne, erschien mir im Traum. In den sonnendurchfluteten Donauauen mit dahinplätscherndem Wasser bewegte der Wind Myriaden grüner Grashalme in einer Umgebung verworrenen Schilfrohrs. Mein Großvater stand inmitten der Grashalme und spielte mir auf einem alten, krachenden Tonbandgerät ein Lied nach dem anderem vor und sagte: "Von Anfang an fiel ich aus dem Rahmen. Ich war ein Außenseiter und passte nie ganz zu meiner österreichischen Umgebung. Ich hatte ein lebenslanges Gefühl des ausgegrenzt Seins. Hör diesen Liedern zu, das ist meine Geschichte.“ Er war aus der Zeit gefallen und teilte es mir mit.
Dieser Traum hat mich sehr bewegt, sodass ich ihn komponierend verarbeiten wollte, denn Schreiben ist für mich ohnehin eine Sache der Erinnerung. Es sollte so sein, als würde man Geträumtes hören, als würde man selbst träumen beim Hören.

Masaot/Clocks without Hands möge als poetische Reflexion über das Verschwinden von Erinnerung angesehen werden. Das Stück vereint immer wieder kurz aufblitzende Melodiefragmente aus sehr unterschiedlichen Orten und Lebenserfahrungen meines Großvaters. Es ist ein geformter Fluss von Erinnerungen.
Die Komposition entfaltet ein „Raster“, in dem Lied-Fragmente immer wieder anklingen und neu miteinander kombiniert werden. Dem entgegen steht ein „musikalisches Objekt“, basierend auf Metronom-Schlägen, die die Zeit hör- und spürbar machen. Wie in einem Karussell tauchen auch diese Metronom-Schläge auf und verschwinden wieder. Aber anders als bei einem Karussell bleiben sie nicht unverändert, sondern verwandeln sich durch einen je leicht verschobenen Zusammenhang und die Überlagerung verschiedener Tempi. Durch dieses “Metronom-Ticken” wird die Zeit, durch diesen äußerlich regulierten Zeit-Puls, zu einem zeitlos empfundenen, subjektiven Gefilde des Unterbewußtseins. Und schließlich löst sich die Zeit vermeintlich auf: die Zeiger sind abgebrochen.

Mein Großvater wurde in einer Stadt am Meer geboren, die in ihrer wechselhaften Geschichte mal im venezianischen, mal im kroatisch-ungarischen Herrschaftsgebiet lag. Später wuchs er im zwischen Kroatien und Ungarn gelegenen Donau-Zwischenstromland auf.
Vielleicht ging es meinem Großvater so wie Canetti, der über seine Zeit der Kindheit an der Donau wie folgt schrieb: "Als Kind hatte ich keinen Überblick über diese Vielfalt, aber ich bekam unaufhörlich ihre Wirkung zu spüren“ und „...daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin.“ Daher ging es mir in diesem Stück um viele unterschiedliche (musikalische) Geschichten, die der Fluss, in meinem Fall die Donau, hört und hinunter bis zum Meer trägt.

Zurück zu Mahler. Seiner Ersten Symphonie wurde nach der Uraufführung Eklektizismus vorgeworfen und diese als „Katzenmusik“ bezeichnet. Genau das hat mich interessiert. Daher wollte ich diesem musikalischen Phänomen und diesem „alten Duft aus Märchenzeit“ nachgehen. In diesem Fall eben der Kindheit und Jugend meines Großvaters an der Donau. Ich wollte aus meinem Hier und Jetzt auf das Gebiet einer ehemalig kakanischen Herkunft blicken. Auf der Suche nach Verortung und Identität.
Vielleicht ist dieses Stück ein ironisch-wehmütiger Abgesang einer österreichischen Komponistin, die sich „negativ frei“ fühlt zu komponieren was sie möchte und damit Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ nahe steht.
Masaot/Clocks without Hands entstand durch den vielstimmigen Gesang meiner zersplitterten Herkunft und aus dem Wunsch heraus nach einem kontinuierlichen Fluss, der durch das fortlaufende Mittel sich austauschender Zellen bestimmt ist, die durch das gesamte Stück laufen.
Heimat ist für mich ein nebulöses Etwas. In Masaot/Clocks without Hands versuchte ich mir das Thema „mehrere Heimaten“ zu beantworten, nämlich durch das Komponieren von Musik als Heimat und Fremde zugleich. Zwischen vertrauten und nicht vertrauten Klängen, jenseits kakanischer Nostalgie als unmöglicher Versuch, durch das Komponieren die Zeit aufzuhalten.




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