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Olga Neuwirth: „Piazza dei Numeri“ (April 2013)

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich nicht noch einmal musikalisch/kompositorisch mit Zahlen zu beschäftigen: ich drohe, ihnen obsessiv zu verfallen. Lieber wollte ich mich auf einen Künstler beziehen, der mich mit seinen pseudo-dokumentarischen Rekonstruktionen und künstlerischen Auseinandersetzungen zu Themen wie Erinnerung, Vergänglichkeit, menschlichen Abgründen, Fragmentierung, zu Vergangenheit und ihrer Rekonstruktion seit vielen Jahren beschäftigt - Christian Boltanski. Dafür kam die Einladung, an diesem Projekt teilzunehmen, zu spät. Bei näherer Betrachtung erschien mir nach der Absage, mich auf Boltanski beziehen zu wollen, Mario Merz’ Iglu im Wald am Mönchsberg, in seiner symmetrischen, eleganten Konstruktion mit den so luftig schwebenden 21 Fibonacci-Zahlen in Neon, gut für eine „Reaktion“ . Vielleicht, weil es vom Wind durchweht wird und mich seine leuchtenden Zahlen sofort anspringen.

„Ziffern im Wald“ haben mein altes Interesse an den Naurwissenschaften wachgerufen, und mich an meine einstmalige Beschäftigung mit der „Accademia dei Lincei“ erinnert. Ihre Mitglieder wollten im frühen 17.Jahrhundert die Natur der Dinge mit einem solch scharfen Wahrnehmungsvermögen wie die Luchse erforschen, und gaben sich daher den Namen Lincei: die Luchsartigen. Ihr wohl berühmtestes Mitglied war Galileo Galilei. Da sie weitgehenst im Geheimen arbeiten mußten, erinnerte mich das auf ironische Weise an mein eigenes Komponieren und meine innere Notwendigkeit, meine Umgebung genau zu beobachten - was freilich Mißtrauen erweckt, damals wie heute -, sowie hinter die Dinge schauen zu wollen, um das Unbekannte, Unausgesprochene, Verdrängte zu erforschen. Und vielleicht wurde doch mein altes Interesse an Zahlen, mit denen ich nicht mehr konfrontiert werden wollte, wieder „getriggert“ durch das Durchschreiten von Merz’ Iglu an einem kalten Dezembertag bei düsterem Licht – im Gegensatz zu meinem ersten Besuch in hellem, gleißendem Licht eines heißen Augusttages vor vielen Jahren, als man die Zahlen nur schemenhaft erkennen konnte.

Das Wirken des mittelalterlichen Pisaner Mathemathikers Leonardo Pisano, genant Fibonacci, und seines bedeutenden Buches „Liber Abbaci“ - in dem er auch die erste, heute nach ihm benannte unendliche, rekursive Zahlenreihe aufstellt -schlug sich auch auf architektonische Entwürfe im „Goldenen Schnitt“ nieder, wie in der Konstruktion und dem spiralförmigen Fundament des „Schiefen Turms“ auf der „Piazza dei Miracoli“ in Pisa. Die Erscheinung dieses Campaniles unterliegt einem einzigen, homogen Konzept und wunderbar gemoetrischer Symmetrien.

Davon angeregt entschloss ich mich, in meiner Reflexion auf Mario Merz’s „Ziffern im Wald“, in seiner Mischung aus Klarheit und Schlichtheit, nur einem einzigen Konzept zu folgen, dies aber in einer hochverdichteten Atmosphäre aus Tönen. Ein Werk der bildenden Kunst kann nicht musikalisch „abgebildet“ werden – ebensowenig wie umgekehrt Musik von einem Bild. Möglich ist eine Reaktion, eine Transformation, für die ich mich hier (wie schon 1993 in meinem Stück „Lonicera Caprifolium“) von der in der Natur allüberall aufretendene Fibonacci-Reihe anregen lasse, im Sinne einer ästhetischen Verarbeitung, und von klanglichen Verästelungen. Ich richte meine Aufmerksamkeit in diesem Stück auf Musterbildungen in der Natur, wie schon einmal vor Jahren auf Symmetrien bei Schneekristallen. Daher reagiere ich weniger auf Merz’s Iglu-Konstruktion, als auf die an 12 Stahlbögen befestigten Ziffern - als Symbol eines Wachstums von "Blättern", eines ewigen, unendlichen Werdens und Vergehens: also eher auf die Bäume und Büsche, die das Iglu umgeben. Ich lade Hörerin und Hörer ein, mit den Musikern und der Sängerin durch einen (Klang)Wald mit seinen zugleich anziehenden und beängstigenden Kräften zu gehen. Das Stück könnte in seinen Ähnlichkeits- und Differenzierungsvorgängen unendlich weitergehen, wie die Fibonacci-Zahlenfolge, aber ich breche es ab wie einen Ast an einem morschen Baum...



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